May 18, 2010

Der Raum für die Religion



05/05'19 Schöpferische Potentialität


Das sind ja ganz entzückende Provokationen, die hier an prominenter Stelle in die Maschen des Cyberweb eingeflochten werden. Hier scheint die "Potentialität" seine begriffliche Herkunft stilsicher dem gleichen Milieu zu verdanken, dem auch die "Dialogizität" entstammt. "Verborgene Stufen vorprogrammierter Geistesentwicklung ..." Es dürfte schwer werden, die streng rationale Denkerziehung rein positivistischer Wissenschaft mit den vorwiegend romantischen Denkgewohnheiten einer hochentwickelten Buchclub-Religion zu infiltrieren. Wenn selbst ein Richard Dawkins, der wie kein anderer in entsprechenden Debatten seinen Standpunkt behaupten musste, bis heute scheinbar nicht den geringsten Sinn für Frömmigkeitsbedürfnisse oder -strukturen entwickelt hat – geschweige denn, sie in den Mittelpunkt gezielter Forschung zu stellen versucht – wie sollte sich der berühmte Fluss zwischen den Ufern rationaler und romantischer Vernunft, den Jesuitenzögling Geißler ihm am 15.11.07 im direkten Gespräch bei Jesuitenzögling Kerner im ZDF vorhielt, denn überhaupt überbrücken, wenn nicht gar trockenlegen lassen?

"Aber es ist doch klar, dass es Dinge gibt, an die der Verstand nicht heranreicht. Nehmen wir z.B. mal die Liebe: Ob ich geliebt werde oder nicht geliebt werde, das ist ja für mein Leben von existentieller Bedeutung und viel wichtiger als der Satz des Pythagoras. Da hat mal einer gesagt: 'Für die ganze Welt bist du irgend jemand, aber für irgend jemand bist du die ganze Welt.' Und das dies in unserem Leben zutrifft, ist für uns viel wichtiger als alle mathematischen oder physikalischen Erkenntnisse, die wir haben. Und da es eben einen Raum gibt auch in den Herzen und in den Köpfen der Menschen, die Sie rein vernunftmäßig nicht erklären können, ergibt sich der Raum für die Religion. Denn wer soll diesen Raum sonst ausfüllen? [...] Wir stehen vor einem großen Fluss, und wir sind am diesseitigen Ufer – das ist die Vernunft, das, was wir mit dem Verstand erfassen können. Am andern Ufer, am jenseitigen Ufer beginnt der Glaube, und da muss ich über den Fluss hinüber. Ob ich hinüber gehe oder nicht, ist meine Entscheidung. Ich muss hinüber schwimmen oder hinüber fliegen, und dann eröffnet sich für mich das Reich des Glaubens."

Ein großes und faszinierendes Thema, bei dem ich im Hinblick auf die "unanfechtbaren Positionen" ("Im Kernbereich des 'Disputierens' gibt es unaufgebbare Fundamente. Es ist daher als unfair anzusehen zu versuchen, diese Fundamente zu unterminieren.") davon ausgehe, dass du, Öli, "Wahrheit" für etwas hältst, das geglaubt werden müsse. Das glaube ich nun überhaupt nicht. Und ich glaube auch nicht wie Mr. Dawkins, dass die Pulverisierung fast des gesamten Betons in den New Yorker Zwillingstürmen zu Feinststaub die Folge einer islamistischen Verschwörung war.



05/06'10 "Göttliches Wort": Und sonst?


Du merkst sicher selbst, Öli, wie einen die Überzeugung, dass "Wahrheit" etwas wäre, das man glauben müsse, einen letztendlich zuverlässig immer in die Lage eines Predigers zwingt, der sich dem ständigen Stress ausgesetzt sieht, andere von dem überzeugen zu müssen, was man für richtig hält. Wie weit diese Haltung auch nach der Implementierung weltweiter Instantkommunikation noch Zukunft haben soll, ist mir schleierhaft. Ich halte das Computernetz mit seinen Interkontinental-Datenautobahnen – besonders im Zusammenhang mit "unserem [dem deutschen] Nineeleven" (Urban Priol) 1989 und dem amerikanischen "9/11" 2001 – für die technische Basis eines zweiten geistigen Quantensprungs auf breiter Front, der uns mitten in den nächsten Evolutionsschritt der Zivilisationsgeschichte (nach Erfindung des Buchdrucks, verbunden mit flächendeckender geistiger und kultureller Reformation) katapultiert hat.

Ich hatte den Eindruck, dir wäre eventuell daran gelegen, eine Brücke zwischen mystischem, stark romantisiertem sowie rationalem, streng empirischen Denken zu schlagen, aber wenn du schreibst, "die Macht der Wahrheit könne sich nur in Wundern offenbaren," wirst du bei Gehirnforschern mit deinem Vorschlag über "verborgene Stufen göttlich vorprogrammierter Geistesentwicklung" kaum auf offene Ohren stoßen, meinst du nicht? Wer im Labor "Potentialitäten" zum Klingen bringen will, braucht schon bessere Argumente als die ewige Litanei zwischen Heiler und Teufel oder eine "Wandlung" auf dem Altar.
Vielleicht fällt es dir nicht auf, aber du bewegst dich argumentativ fast ausschließlich auf linguistischem Gebiet, worin natürlich die große Stärke des christlichen Glaubens besteht: seine hochflexible Anpassungsfähigkeit, vermischt mit poetischer Erhabenheit. Eine Art politischer Interpretationswissenschaft mit dem Anspruch auf moralische Lufthoheit.

"Diener am göttlichen Wort" – das scheint mir in der Tat so ziemlich alles zu sein, was du aufbieten kannst, und das ist natürlich nicht zu verachten. Aber befürchtest du nicht, mit dieser Art der Gesprächsführung, bei der du traditionelle mystische Motive nahezu permanent zu allmächtiger Schicksalhaftigkeit metamäßig aufbläst und gleichzeitig die Erfolge wissenschaftlichen Fortschritts mehr oder weniger ins Kellergeschoss deines Gedankengebäudes verbannst, dich selbst als auffällig einseitigen und letztendlich doch ziemlich einfältigen Schwafelonkel zu entlarven, mit dem sich weniger romantisch gestrickte Seelen kaum vernünftig unterhalten können?
Ich werde von den literarischen Perlen, die du hier ins philosophische Forum streust, eine ganze Menge an anderer Stelle im Netz weiterverwenden können, also versteh' mich bitte nicht falsch. Für ein ergiebiges Online-Gespräch müsstest du dich jedoch ein ganzes Stück von deiner universalkirchlichen Wolke aus universalgültigem Ganzheitsgerede herabbegeben.



05/06'10 Mystizismus versus Positivismus? Nicht unbedingt.


Deiner Klage über die Fachidiotie innerhalb der wissenschaftlichen Fakultäten schließe ich mich an. Andererseits macht das alle fachübergreifenden Anstrengungen umso spannender, die man heutzutage ja am Computer auch noch live mitverfolgen kann. Den Satz, "wenn der Ursprung der christlichen Wahrheit nicht göttlichen Ursprungs wäre, hätte die Vielzahl unterschiedlicher religiöser Meinungen in 2.000 Jahren und Versuche totaler Beseitigung sie nicht überleben lassen," lehne ich allerdings als komplett bedenklich und weitgehend falsch ab, und das nicht nur im Namen der Katharer. Darüber können wir uns gern genauer verständigen, wenn du Lust hast. Als Anreiz würde ich deiner Suchmaschine zum Einstieg "Christ himself is a powerfully shamanic figure" anbieten. Und außerdem sind die vielen Fakultäten des offenen (protestantischen) wie auch die des geschlossenen (katholischen) Christentums auch nicht zu verachten, wobei der Protestantismus per jesuitisch dominiertem Vaticanum II und jesuitisch kontrollierter Ökumene längst wieder von Rom vereinnahmt wurde.

Der Begriff "Dialogizität" ist mir übrigens zum ersten Mal in einem Interview mit Felix Körner SJ über den Bildschirm geflimmert – typisch jesuitisch eben. Dass Mixa z.B. in der Bredouille steckt, war mir zu dem Zeitpunkt klar, als Mertes ihn direkt im Corporate Mainstream attackiert hat.

Das "Stottern" angesichts der unermesslichen Weiten bzw. Möglichkeiten des menschlichen bzw. göttlichen Geistes finde ich sehr sympathisch und auch irgendwie angemessen. Ich halte es an dieser Stelle mit Terence McKenna:

"Ich denke, die Phantasie ist der größte Teil von uns, wo wir den größten Teil der restlichen Menschheitsgeschichte verbringen werden. (I think, the human imagination is the largest part of us and where we're going to stand most of the rest of human history.)"

Du sagst, es wäre aus deiner Sicht "unfair, beim 'Disputieren' unaufgebbare Fundamente im Kernbereich unterminieren zu wollen." Was bedeutet das genau? Heißt das, man soll persönliche bzw. gemeinschaftliche Frömmigkeiten im Gespräch respektieren, oder geht das soweit, dass du dir verbittest, deine Frömmigkeit zum Thema zu machen? Ich frage deshalb, weil ich bei der gegenwärtigen Informationsexplosion in der Möglichkeit eines wesentlich effizienteren und hochauflösenden Abgleichs von Frömmigkeitsverhältnissen den zentralen reformatorischen Impuls vermute.



05/07'10 Heilige Erbanlagen


Du bist auf der richtigen Fährte, Malocher. Hast du mal in die Weltautoritätsenzyklika des katholischen Pharao vom 7.Juli'09 reingelesen? "Jeder findet sein Glück, indem er in den Plan einwilligt, den Gott für ihn hat" ... Oder anders gesagt: "All we need is the right major crisis" ...

Mit Lenin bist du schon sehr nahe dran, denn der wurde nicht ohne Grund wie ein Sonnenkönig einbalsamiert und mumifiziert. Dieser Mann ebnete den Weg zum dialektischen Endspurt in den Weltgottesstaat, der mit der Jahrhundertwende spektakulär, ja beinahe außerirdisch-spektakulär, eingeleitet wurde ("U.S. Military Rifle Scopes Inscribed With Bible Verses"). Safranski würden bestimmt die Augen übergehen, sobald ihm schwante, dass es sich bei Kommunisten eigentlich um verkappte Kommunionisten handelt ... Yeah, wer nämlich noch glaubt, der Marxismus stamme von Marx, der irrt gewaltig! Ein kurzer freundlicher Anruf bei Harald Schmidt trüge sicher zur Aufklärung bei, denn der weiß mehr als der fleißig zahlende Fernsehbürger. Er konnte es sich als glühender Papist nicht verkneifen, das in einer seiner Sendungen brutal durchblicken zu lassen.

Die Sache sieht im Groben so aus, dass Marx und Lenin, wie auch Himmler und Stalin, Descartes, Weishaupt, Napoleon, Castro, Arafat, Clinton oder Obama – um nur einige zu nennen – von ein und derselben Truppe ausgebildet und in die Schlacht geworfen wurden. Und den eisernen Vorhang hat man über 150 Jahre in Südamerika erfolgreich getestet, lange bevor er dann im Zuge von Zwillingsweltkriegen und Zwillingsatombomben 40 Jahre im Weltmaßstab zum Einsatz kam.
Ööli kann sich freuen: Einer der Jesus-Ritter hat es James Arrabito gegenüber überraschend freimütig ausgeplaudert, dass die römisch-katholische Kirche – so unglaublich es klingt – die Welt wieder beherrschen wird. Wäre ja auch zu komisch, wenn die Jungs nur deswegen ins Zölibat gehen, um ihre "Mitbürger" ein Leben lang mit dem gleichen Gesülze einzuseifen, oder?
Diesen absolut scham- und skrupellosen, mit allen Wassern gewaschenen und permanent perfektionierten vor allem geistig-intellektuellen Terror transparent zu machen – das müsste doch im digitalen Zeitalter endlich gelingen, meine ich.

Und falls sich jemand fragen sollte, wer die solidaristische Bundesrepublik erfunden hat, der wird feststellen, dass selbst der "Spiegel" nicht umhin kann einzuräumen, dass der deutsche Staatskonzern sozialkatholisch verfasst ist. Denn bei aller offizieller Trennung von Staat und Kirche verschmelzen beide doch insgeheim rechtlich und geheimdienstlich bisher immer wieder zum befehlsbürokratischen "Schloss" kafkaesker Lebensumstände.

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